Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit Fragen von Klasse und Rassismus in feministischen Räumen. Auslöser für unsere ausführliche Diskussion waren unsere Erfahrungen auf dem Feminist Futures Festival in Essen vom 13. bis zum 15. September.
Unsere Überlegungen gehen aber tiefer, als es eine einzelne kritische Beleuchtung eines einzigen Festivals hergeben könnte. Wir wollen aufzeigen, was unserer Meinung nach die Tücken aktueller (links-)liberaler feministischer Politik sind, sowie eine Perspektive auf die Möglichkeit gemeinsamer feministischer Kämpfe werfen.
Ramsis Kilani, Narges Nassimi, Eleonora Roldán Mendívil – 18. Oktober 2019
zur Verfügung gestellt von AmericanRebel
Intersektionaler Feminismus
In erster Instanz stellen wir fest, dass es nicht den einen Feminismus gibt, sondern dass verschiedenste politische Strömungen mit den unterschiedlichsten Antworten sich auf das Konzept „Feminismus“ beziehen. Unserer Beobachtung nach sind liberale Spielarten des Feminismus dabei in Deutschland dominant. Ein lean in– oder Quoten-Feminismus, der sich durch die Repräsentation von Frauen in Führungspositionen eine frauenfreundlichere Politik erhofft ist genauso verbreitet wie ein imperialistisch-rassistischer Feminismus, der die Überlegenheit weißer und/oder europäischer Frauen dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie „Brauen Frauen vor Braunen Männern“ retten wollen (Gayatri Spivak). Dieser eurozentrische Feminismus beruft sich nur auf nicht-weiße Frauen, wenn diese ihre chauvinistische Politik, welche sich schlussendlich gegen gesamte Gemeinschaften im Globalen Süden sowie gegen die gesamte migrantische Gemeinschaft hier im Globalen Norden richtet, unterstützen (Alice Schwarzer und Konsorten). Wir verstehen als liberalen Feminismus, ein Feminismus der aus einem kleinbürgerlichen Verständnis heraus „Gleichberechtigung“ für Frauen innerhalb des kapitalistischen Systems sucht. Diesen Feminist*innen geht es nicht um die Befreiung aller Frauen vom patriarchalen Joch und der kapitalistischen Überausbeutung, sondern um die Möglichkeit, dass auch Frauen Ausbeuterinnen werden können. Prinzipien wie Individualismus und der Leistungsgedanke machen aus Frauen und queeren Personen Einzelkämpfer*innen für ihre individuelle Emanzipation.
Gegen die Vorstellung, alle Frauen seien etwa gleich, war das Konzept der Intersektionalität, selbst in liberalen Kreisen, eine notwendige Intervention. Die Idee der Intersektionalitätstheorie ist dabei, dass Klasse, ‚Rasse‘, Geschlecht und andere als soziale Kategorien benannte Lebenserfahrungen (Sexualität, Alter, etc.) sich in Intersektionen zueinander befänden, die die Gesamtheit der Individuen bilden. Daraus ergibt sich, dass ein intersektionaler Feminismus alle Formen struktureller Benachteiligung in seine feministische Praxis einbeziehen muss. Hierdurch wird Klassenzugehörigkeit eine von vielen Unterdrückungserfahrungen. Die Hegemonisierung der Kategorie „Klassismus“, wenn man in feministischen Räumen überhaupt von Klasse spricht, ist dabei sowohl in feministischer Theorie als auch in aktivistischen Basisgruppen dominant.
Intersektionalität als politische Strategie hat unserer Meinung nach Grenzen. Terry Eagleton erklärt das Problem treffend:
Niemand hat eine bestimmte Hautpigmentierung, weil andere eine andere haben, und niemand hat ein bestimmtes Geschlecht, weil andere ein anderes haben. Aber Millionen von Menschen befinden sich in der ‚Position‘ des Lohnarbeiters oder der Lohnarbeiterin, weil es auf der Welt ein paar Familien gibt, die in ihren Händen die Produktionsmittel konzentrieren. Beide Kategorien (bürgerlich/proletarisch oder Ausbeuter*in/Ausgebeutete*r) stehen auf eine Weise im Verhältnis zueinander, das – im Unterschied zu anderen Identitäten – nur durch Abschaffung dieses spezifischen Verhältnisses (Kapital/Arbeit) auch die untergeordneten ‚Identitäten‘ abgeschafft werden können“.
Intersektionalität stößt als Strategie also an Grenzen, da Ausbeutung etwas anderes ist als Unterdrückung. Die Ausbeutung, also fremde Aneignung der Kapitalistenklasse, des in der Lohnarbeit der Arbeiter*in erzeugten Mehrwertes, bildet die ökonomische Grundlage des Kapitalismus, der ein enges Bündnis mit patriarchaler und rassistischer Unterdrückung schließt. Natürlich besteht die Arbeiterklasse aus verschiedensten Identitäten, die oft anhand spezifischer Unterdrückungserfahrungen segmentierte Teile bilden. Und als konzeptionelle Kategorie hilft uns Intersektionalität oder ein „intersektionaler“ Blick essenziell, unsere Kämpfe breiter und inklusiver für die besonders ausgebeuteten Teile unserer Klasse zu gestalten. Wir erkennen jedoch in Intersektionalität ohne Klassenstandpunkt keine ganzheitliche Strategie. Denn im Endeffekt ist diese Art des intersektionalen Feminismus keine vollständige Theorie mit einer Strategie bis zur Befreiung von Kapitalismus und Unterdrückung – sondern ein Konzept, welches die Überschneidung unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen sichtbar zu machen versucht.
Die Sichtbarkeit oder Inklusion einiger „Vertreter*innen“ unterdrückter Gruppen überwindet diese Mechanismen nicht; der kapitalistische Staat bleibt bestehen; Kapitalist*innen, die reaktionären weltweiten Strömungen, Kriege, koloniale und imperialistische Besatzungen bleiben – auch mit einem intersektionalen Feminismus – weiter bestehen. Es wird nicht mehr gegen ein durch und durch menschenfeindliches Ausbeutungssystem gekämpft, sondern mehr „arme“ Menschen, die von „Klassismus“, also von Diskriminierung aufgrund ihrer Armut, betroffen sind, werden inkludiert. Im schlimmsten Fall wird sogar belesenen Prolet*innen willkürlich „Intellektualismus“ vorgeworfen und somit eine politisch-strategische Diskussion untergraben.
Wir denken, dass die Diskriminierung von Menschen aufgrund einer beispielweise nicht-akademischen Bildung existiert und wir wollen barrierefreie feministische Räume ermöglichen und gestalten. Doch eine Benennung dieser Diskriminierungsformen allein reicht nicht aus, um die Strukturen der Armut zu erkennen und zu bekämpfen. Und die Bekämpfung und Überwindung struktureller Armut ist unser Ziel.
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Rassismus im Feminismus
Auch Rassismus ist in feministischen Räumen weit verbreitet. Dies wird in der nicht zentralen Behandlung von Rassismus in feministischer Politik deutlich. Zum Beispiel gibt es kaum sichtbare feministische Rufe nach einem Wahlrecht für alle Frauen, inklusive in Deutschland lebende ausländische Staatsbürgerinnen, sowie Frauen mit ungesichertem oder gar keinem Aufenthaltsstatus in Deutschland. Aber auch die geringe Anzahl migrantischer und/oder nicht-weißer Aktivist*innen in deutschen, feministischen Räumen lässt für uns auf strukturelle Ausschlüsse, und nicht auf eine mangelnden Begeisterung migrantischer und/oder nicht-weißer Feminist*innen, schließen.
Tatsächlich wird in vielen migrantischen Gemeinschaften „Feminismus“ oft primär mit imperialistischer Politik in Verbindung gebracht. Auch Deutschland ist zum Beispiel in Afghanistan in den Krieg gezogen, um zusammen mit den USA „Frauenrechte“ durchzusetzen. Diese Art des imperialistischen Feminismus sind viele Gemeinschaften aus dem Globalen Süden auch von sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen in ihren Herkunftsländern gewöhnt. Dort werden unter dem Deckmantel „Chancengleichheit“ oder „Inklusion von Frauen auf dem Arbeitsmarkt“ seit Jahrzehnten brutale neoliberale Strukturanpassungsprogramme durchgesetzt, die ohnehin schon prekär lebende Frauen und queere Menschen in oft noch viel unsicherere ökonomische Verhältnisse stoßen. Beispiele hierfür sind die Politiken des Internationalen Währungsfonds in Argentinien, dem Irak, Nigeria und Indien (siehe Naomi Klein oder Silvia Federici).
Innenpolitisch fällt die rassistische Politik der größten Deutschen Frauenrechts-Organisation „Terre des Femmes“ auf, die seit Monaten eine Kampagne zum Hijab-Verbot für Mädchen und Frauen unter 18 Jahren in öffentlichen Räumen durchsetzen will. Dass hier die zentrale feministische Losung „Mein Körper gehört mir“ durch staatliche Repressionsmaßnahmen von Feminist*innen eingeschränkt werden soll, ist nur möglich, da muslimischen Frauen und Mädchen per Muslim-Sein selbstbestimmte Entscheidungen zu ihrem Körper – anders als nicht-Musliminnen – von dieser Art Femonationalismus verwehrt werden.
Aber Rassismus ist nicht nur ein Phänomen in offen liberal-bürgerlichen feministischen Räumen. Auch in linken und linksradikalen Räumen trifft man wenige migrantische und/oder nicht-weiße Aktivist*innen an. Auch hier wird zum Beispiel in gängigen Argumenten Frauen-, Homo- und Transfeindlichkeit als primär migrantisches („Aber in Neukölln ist es nun mal homophober!“), statt als gesamtgesellschaftliches, patriarchales Problem dargestellt. Aber auch Fragen nach der „wahren Herkunft“ nicht-weißer Aktivist*innen, oder dem Setzen eines als weiß, aufenthaltsgesicherten und finanziell abgesichertem „Wir“, sind Alltag.
Wir sind es leid in deutschen, feministischen Räumen, in die wir treten, als „die Anderen“ oder gar als die Repräsentant*innen der Migrant*innen behandelt zu werden. Wir denken, dass eine fruchtbare antirassistische Kritik mit der Analyse, was Rassismus überhaupt ist, woher er kommt und wer davon profitiert, anfängt.
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Materialistischer Rassismusbegriff
Wir denken nicht, dass Rassismus aus individualisierenden und pathologisierenden Erklärungsversuchen heraus bestimmt und verstanden werden kann. Rassismus ist eine ideologische Formation (Robert Miles), die im Kapitalismus einerseits dazu dient, die Überausbeutung bestimmter Teile der Arbeiterklasse zu rechtfertigen. Der wesentlich geringere Lohn, die schlechtere Unterbringung, die unsichereren Arbeitsverträge und die schlechtere wohnliche Unterbringung der sogenannten Gastarbeiter (BRD) beziehungsweise Vertragsarbeiter (DDR) ließ sich im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre leicht durch rassistische Argumentation legitimieren: Die ausländischen Arbeiter*innen seien fauler, nicht so geschickt, seien sowieso schmutzig und bräuchten nicht die gleichen Hygienestandards wie deutsche Arbeiter*innen, etc. Rassismus wird somit von der herrschenden Klasse als Instrument der Spaltung gegen die Arbeiterklasse eingesetzt, um Löhne und die Kosten reproduktiver Tätigkeiten runter zu schrauben und Arbeitskämpfe zu demobilisieren. Andererseits wird Rassismus auch dazu genutzt, um imperialistische Raubzüge in anderen Teilen der Welt und koloniale Ausbeutung, Unterdrückung und Verdrängung zu legitimieren, indem andere Nationen und Menschengruppen in ihrer Wertigkeit herabgestuft werden.
Rassismus ist ein konstitutiver Teil kapitalistischer Klassengesellschaften. Wie David McNelly treffend beschreibt, bilden „die geschlechtsspezifischen und rassisierten Beziehungen der kapitalistischen Produktion und Reproduktion […] eine übergeordnete Einheit für alle Dimensionen der sozialen Erfahrung“. Auch wenn wir den Charakter des Rassismus als Erscheinung und als sich materiell äußernde Unterdrückungsform im Kapitalismus erkennen, besteht über derlei Funktionen hinaus eine weitere Komponente. Rassismus wird als Legitimationsformel für die Überausbeutung bestimmter Teile der Arbeiterklasse über common sense-Strategien der ideologischen Staatsapparate, des Überbaus, wie der Schule, der Kirche, der Medien, etc., als Klassenkampf-Strategie von oben propagiert. Rassismus kann dadurch immer auch eine gesellschaftliche Eigendynamik entwickeln, die losgelöst von der Frage, was die jeweiligen Kapitalfraktionen eigentlich brauchen (meist: besonders billige Arbeitskraft), auftauchen kann.
Rassismus wird dabei in linken und feministischen Kontexten weiterhin als völlig anders verhandelt als Sexismus. Frauen und queere Menschen konnten mittlerweile die Vermittlung der Erkenntnis erkämpfen, dass Sexismus über seine Funktion in der Klassengesellschaft und im Produktionsverhältnis hinaus auch als gesellschaftliches Phänomen besteht, welches vor linken und feministischen Gruppen nicht Halt macht, in denen Individuen nach wie vor sexistische Vorurteile haben und eine patriarchale politische und private Praxis an den Tag legen. Für Rassismus ist das Gleiche hingegen weder gesellschaftlich noch für einen Großteil linker Gruppen vermittelt.
Rassismus wird immer noch primär am rechten Rand, als Teil einer reaktionären Ideologie verortet. Höchstens wird dann noch auf staatlichen, strukturellen Rassismus verwiesen. Selten aber wird die Seite dieser gesellschaftlichen Formation in linken Räumen wahrgenommen und/oder thematisiert. Auch weiße Deutsche in progressiven Gruppen und Kontexten zeigen nach wie vor rassistische Vorurteile und Praktiken. Dies zeigt sich unter anderem in einer paternalistischen und opportunistischen Politik gegenüber „den Migrant*innen“ oder „den Asylsuchenden“, bei der migrantische Stimmen nur als Aushängeschild zum Selbstzweck der Organisation willkommen sind, solange sie keine Kritik an deren Politik äußern und/oder den Elefanten im Raum – die Unterstützung großer Teile der deutschen Linken und Feminist*innen für den Kolonialstaat Israel – thematisieren. Obwohl genau dieser Umstand migrantische Menschen kategorisch ausschließt und ihnen die Teilnahme an linken Kontexten damit oft praktisch verwehrt bleibt, wird die Ausklammerung solcher eklatanten Fragen dann auch häufig noch mit der Vermeidung von Spaltung begründet, die durch das Ausklammern längst besteht. Nicht zu vergessen, entwickeln aber auch Migrant*innen und nicht-weiße Menschen selbst durch die ansozialisierte rassistische Ideologie rassistische Denkmuster und Handlungen gegenüber anderen migrantischen Gruppen oder durch Minderwertigkeitskomplexe gegen die eigene Gemeinschaft und sich selbst als Individuen.
Auch wenn wir es als politisch kontraproduktiv einordnen, ist das verzweifelte und resignierte Abwenden von geflüchteten, migrantischen und nicht-weißen Linken von deutschen linken Kontexten in erster Linie eine Reaktion auf die dortigen Verhältnisse. Es hilft also wenig, mit dem Finger auf das Symptom zu zeigen und wegen separatistischer Organisierung von Migrant*innen „Identitätspolitik“ zu rufen und somit marginalisierte, von Rassismus Betroffene, als das eigentliche Problem zu markieren. Statt einer solchen Symptombekämpfung, die lediglich dazu führen wird, dass sich migrantische und nicht-weiße Aktivist*innen noch mehr angegriffen und bestätigt fühlen und sich dadurch weiter zurückziehen, sollten wir die Ursache des Problems bekämpfen. Diese liegt maßgeblich im Rassismus linker und feministischer Räume und der Weigerung, eine klare antikoloniale und antiimperialistische Praxis zu entwickeln, die sich klar und deutlich auf der Seite der Unterdrückten positioniert.
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Antijüdischer und antimuslimischer Rassismus
Um dies beispielhaft zu erläutern, wollen wir ausführlicher auf die Antisemitismusdefinition im Glossar des Programms des Feminist Futures Festivals schauen. Diese im deutschen Kontext nicht einzigartige, sondern sehr gängige Definition ist Ausdruck gleich mehrerer theoretischer Probleme, allen voran einer falschen Rassismusdefinition, die fatale und reale Auswirkungen auf feministische Praxis hat.
In diesem Glossar heißt es: „Antisemitismus hat unterschiedliche Erscheinungsformen und entsteht unabhängig vom Verhalten jüdischer Menschen.“ Antisemitismus braucht, wie jede andere Diskriminierungsform, einen vorhandenen Ansatzpunkt, um legitimiert werden zu können. Beim Antisemitismus waren das zum einen historische Ansatzpunkte wie beispielsweise des feudalen Europas, wo die Herrschenden, jüdische Menschen quasi als eigene „Volksklasse“ (Abraham Léon) Handel und Finanzen betreiben ließen. Diese im Kapitalismus untergegangene wirtschaftliche Sonderstellung von Jüd*innen wurde im Nachhinein benutzt, um ihre Rassifizierung zu legitimieren. Denken wir an die antisemitische Idee von einer „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, so sehen wir, dass auch reale Entwicklungen im Kapitalismus selbst zur Legitimation des Antisemitismus missbraucht wurden und werden. Es war nämlich tatsächlich so, dass eine Vielzahl an jüdischen Menschen durch ihre erlebte rassistische Unterdrückung in revolutionäre sozialistische Gruppen strömten und zu starken Verfechter*innen sozialistischer Ideen wurden. Diese für rassistische Ideologien verdrehten Ansatzpunkte in der realen Welt haben natürlich keineswegs zur Bedeutung, dass eine von Rassismus betroffene Menschengruppe schuld an ihrer Unterdrückung wäre – ganz im Gegenteil. Es bedeutet, dass rassistische Ideen, die sich durchsetzen, nicht völlig unabhängig von realen Gegebenheiten konstruiert werden können, ohne an Überzeugungskraft einzubüßen.
Der rassistische Charakter des Antisemitismus wird im Glossar gänzlich abgestritten. Vertreten wird ein gänzlich nicht-materialistischer Antisemitismusbegriff, mit dem unter anderem auch der israelische Staat sich selbst und seine Politik legitimiert sowie vor Kritik schützt. Daher heißt es: „Der Begriff bezeichnet Einstellungen, Äußerungen und Handlungen, die sich – direkt oder indirekt – gegen (vermeintlich) jüdische Menschen, Institutionen und Einrichtungen richten.“ Diese Definition führt dazu, dass jegliche Kritik an einer jüdischen Person oder Institution eigentlich immer als antisemitisch gewertet werden kann. Dies höhlt das, was antijüdischer Rassismus beziehungsweise Antisemitismus wirklich ist, aus und gefährdet Jüd*innen, da diese in rassistischer Manier nur als homogene Gruppe (zum Beispiel: Jüd*in = Zionist*in) existieren dürfen. Vor diesem Hintergrund macht auch die deutsche Wortklausel eines „israelbezogenen“ Antisemitismus so wenig Sinn wie von „Saudi-Arabien-bezogenem“ antimuslimischem Rassismus zu sprechen. Es gibt Rassismus, inklusive Antisemitismus. Der Umstand, anhand welcher Ansatzpunkte in der realen Welt sich Formen von Rassismus legitimieren, lässt keine neue Erscheinungsform entstehen.
Weiter heißt es im Glossar: „Anders als in von Rassismus geprägten Denkmustern werden Juden und Jüdinnen meist als mächtig und überlegen angesehen, als heimliche Herrschende der Welt.“ Es ist falsch, dass derartige Denkmuster jüdische Menschen als „überlegen“ darstellen. Jüd*innen werden auch in dieser antisemitischen Deutung mit negativen Eigenschaften entwertet: Als charakterlich und moralisch verkommen, als egomanisch, hinterhältig, unmenschlich, gierig, als herrsch- und machtsüchtig – ob nun aufgrund von biologischen oder kulturellen Merkmalen. Der Rasseantisemitismus der Nazis stellt dies sehr deutlich dar: Jüdischen Menschen wurde vorgeworfen, sich durch Manipulation und „barbarische“ Praktiken einen Platz an der Spitze der Gesellschaft erschlichen zu haben, der eigentlich den überlegenen „Ariern“ zustehe. Antisemitismus ist in unserem Verständnis, und hier schließen wir uns Brian Klug und Mike Cole an, ebenfalls eine ideologische Formation, die die rassistisch Markierten entwertet und ihrer Individualität und Heterogenität beraubt.
Zweitens stimmt es nicht, dass die rassistische Propaganda, unterdrückte und marginalisierte Menschengruppen befänden sich insgeheim in Machtpositionen, ein Alleinstellungsmerkmal des Antisemitismus sei. Der in Deutschland staatstragende und hegemoniale antimuslimische Rassismus benutzt beispielsweise ebenfalls derartige Deutungsmuster. So gehen Rassist*innen beispielsweise davon aus, dass muslimische Menschen unterstützt von reichen arabischen Ölstaaten weltweit einen „Jihad in drei Phasen“ planen, mit dem sie die nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften übernehmen wollen: Anfänglich friedliche Festigung ihrer Position als Minderheit in der Gesellschaft durch vermeintliche Lügen, dann propagandistische Agitation und Kampf und abschließend die militärische Machtübernahme und weltweite Unterwerfung aller Nichtmuslim*innen. Auch rechtsextreme und antideutsche Illustrationen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einem Hijab oder die hartnäckigen Gerüchte gegen den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, Moslem zu sein, dienen dazu, Muslim*innen zu Herrschenden zu machen und dichten ihnen an, an den eigentlichen Schalthebeln der Macht zu sitzen. Derartige Deutungsmuster können in verschiedenen Situationen unterschiedlichen Klasseninteressen dienen: Eine ökonomisch herrschende Klasse kann so die berechtigte Wut auf die Ungerechtigkeit ihrer Herrschaft auf einen Sündenbock leiten. Oder – und das war historisch im europäischen Faschismus der Fall – das Kleinbürgertum, die Klasse zwischen der ausbeutenden und der ausgebeuteten Klasse, kann auf diese Weise auf eine wirtschaftliche Krise des entwickelten Kapitalismus reagieren. Seine Abstiegsängste im Konkurrenzkampf sowie seinem Verschwinden und seiner politischen Machtlosigkeit als verschwindende Klasse kann es die utopistische Ideologie einer völkischen Einheit im Kampf gegen die rassifizierten Anderen entgegenstellen. Das bringt niemand prägnanter auf den Punkt als Hitler selbst: „Rassenkampf statt Klassenkampf“. Für den erfolgreichen Klassenkampf zu klein, ist das Kleinbürgertum deshalb dazu genötigt, dieses Gift in die Arbeiterklasse zu tragen. Die Arbeiterklasse hat alles andere als ein natürliches Klasseninteresse an der sie spaltenden Ideologie des Rassismus.
Dramatischerweise ist der letzte Satz der Antisemitismusdefinition einer der wenigen richtigen und wichtigen, der aber durch das grundsätzliche Nichterkennen des Antisemitismus als Form von Rassismus an Wert verliert: „Antisemitische Vorurteile sind in allen gesellschaftlichen Gruppen vorhanden – selbst unter Menschen, die sich gegen Antisemitismus positionieren.“ Herrschaftssichernde und staatstragende rassistische Ideologien, die sich einmal durch die oben angeführten Gründe und gesellschaftlichen Entwicklungen durchsetzen konnten, sind tatsächlich dazu in der Lage, sich als gesamtgesellschaftliches Phänomen durchzusetzen. Das trifft im Falle des Antisemitismus zu. Es trifft aber aktuell darüber hinaus im deutschen sowie im gesamten Kontext des imperialistischen Speckgürtels vor allem auf antimuslimischen Rassismus zu. Die gleiche Komponente findet in der Begriffsdefinition von Rassismus in selbigem Glossar keine Erwähnung.
Welchen Feminismus brauchen wir?
Ein Feminismus, der die Klasse, die allen gesellschaftlichen Reichtum schafft, die Arbeiterklasse, nicht ins Zentrum seiner Politik rückt, wird immer nur eine Politik für eine Identität anvisieren und nicht die Befreiung aller Menschen. Der Rassismus innerhalb linker Gruppen und der mangelnde Protagonismus von nicht-weißen Menschen in linken Räumen kann von uns Migrant*innen, denen diese Problematik schmerzlich bewusst ist, angegangen werden, indem wir uns innerhalb progressiver Gruppen miteinander und mit weißen, antirassistischen Genoss*innen vernetzen und gezielte Aufbauarbeit in migrantisch-proletarischen Kontexten angehen. Vor allem migrantische Linke können die Funktion als Brückenbauer*innen einnehmen, die aktiv auf andere migrantische Arbeiter*innen zugehen. Durch einen gemeinsamen Horizont an Unterdrückungserfahrungen sind wir in einer günstigen Position, um mit migrantischen Arbeiter*innen ins Gespräch zu kommen und gemeinsam politische Forderungen zu formulieren, die zu den allgemeinen Forderungen einer neuen Arbeiterbewegung – mit Frauen, queeren und migrantischen Menschen unter den sichtbaren Anführer*innen – werden müssen. Weiße Linke müssen darum kämpfen, Rassismus zentral und konstant in linken Räumen zu verhandeln und müssen Fragen des deutschen Imperialismus und die Komplizenschaft pseudo-linker und feministischer Politik damit aufzeigen lernen. Schlussendlich müssen wir alle die Probleme aslysuchender und migrantischer Menschen ins Zentrum feministischer Politik rücken.
Antirassismus ist keine Gemütshaltung – oder lediglich der Spruch auf einem Beutel („Rassismus ist keine Alternative“). Antirassismus zeigt sich in einer gelebten Praxis, einer antiimperialistischen Politik, die weiße Arbeiter*innen mit sicherlich auch rassistischen Einstellungen nicht verprellt, sondern in diese ebenfalls marginalisierten Teile unserer Klasse reicht und einen aktiven proletarischen Antirassismus lebt und nicht den Sozialdemokraten, Liberalen und Rechten das Feld überlässt.
Was wir brauchen, sind Repräsentant*innen einer internationalistischen, klassenkämpferischen, antiimperialistischen Perspektive des heutigen Feminismus in Deutschland. Die hauptsächliche Stoßrichtung muss hin zu einer bewegungsorientierten, statt einer statischen, bürokratisch stellvertretenden politischen Praxis weisen. Strategien des Mitverwaltens stehen Strategien des Antagonismus der Arbeiterklasse mit allen Kapitalfraktionen gegenüber. Mitregieren statt Umwerfen der unterdrückenden Verhältnisse verkommt so zu einer fatalen Strategie. Eine gemeinsame Strategie mit dem deutschen Imperialismus und kolonialen Staaten wie Israel müssen einer internationalistischen, antirassistischen Politik weichen, die sich mit den Unterdrückten solidarisiert.
Wir wollen über eine Strategie zum Sturz der Macht des Kapitals, welches imperialistisch und frauenfeindlich ist, sprechen. Wir denken, dass es einen anderen Feminismus braucht, der die Sichtbarmachung aller Unterdrückungsmechanismen beinhaltet, aber Klassenzugehörigkeit als Maßstab des Grads der Unterdrückung versteht. Wir denken, dass es einen Feminismus braucht, der eine klare antikapitalistische, und damit gezwungenermaßen antiimperialistische, internationalistische Perspektive und Praxis für aktuelle feministische Kämpfe in Deutschland zum Ziel hat. Wir brauchen einen Feminismus, der nicht nur anklagt und letztlich die Lösung an Parteien und den Staat abgibt, sondern einen, der die bürgerliche Macht umstoßen möchte und dazu bewusst Kräfte in der Arbeiterklasse sammelt, und sich dafür mit Reproduktions-, Frauen- und queeren Kämpfen, mit Migrant*innen- und Geflüchtetenkämpfe an vorderster Stelle verbindet. Ein internationalistischer und antiimperialistischer Feminismus muss die Überausbeutung als weiblich beziehungsweise nicht-männlich oder nicht-heterosexuell markierter und/oder Schwarzer und Brauner Körper in einem globalen Kontext kapitalistischer Akkumulation verstehen. Feministische Kämpfe von einer internationalistischen und antiimperialistischen Ausrichtung zu trennen, stützt den deutschen Imperialismus und Nationalismus und fördert das, was Sara R. Farris „Femonationalismus“ nennt, also ein rassistischer und nationalistischer Feminismus für eine kleine Minderheit. Und das ist nicht unser Feminismus.
Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ vor wenigen Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und des Autors. Bilder und Bildunterschriften wurden von der Redaktion American Rebel hinzugefügt.
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Über die Autoren/-innen:
Ramsis Kilani ist palästinensischer Sozialist und Mitglied beim SDS. Sein politischer Fokus liegt auf Antirassismus und antikolonialen Befreiungskämpfen. Er lebt in Siegen.
Narges Nassimi ist kurdische Feministin aus Rojilat und Mitbegründerin der internationalen, sozialistischen Frauenorganisation Brot und Rosen in Deutschland. Sie lebt in München.
Eleonora Roldán Mendívil ist Marxistin und arbeitet als Journalistin und Freie Bildungstrainerin zu Rassismus, Geschlecht und Kapitalismuskritik. Sie ist im Frauen*Streik Komitee und in der Organisation des Antikolonialen Monats in Berlin aktiv.
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Lest dazu auch:
– Frauentag: Ohne Sozialismus keine Frauenbefreiung, ohne Frauenbefreiung kein Sozialismus
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Für den Inhalt dieses Artikels ist der Autor bzw. die Autorin verantwortlich.
Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.
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