Schweizer Arbeitswelt unter Pandemie Covid-19

Wolfgang Honold – 20. Mai 2020

Ich, Euer ergebener alter Wolfgang Honold-Sacoto, muss wieder mal etwas Gedankliches los werden. Hier ist es:
Da hört man furchtbare Sachen von Ländern ausserhalb der Schweiz. Von letzterer würde man jedoch gemeinhin annehmen, dass Bürokratie „made in Switzerland“ sprichwörtlich so zuverlässig pünktlich und „schpeditiv“ – wie deutschsprachige Schweizer gerne dazu sagen – wie ein schweizer Uhrwerk ablaufe. Ich war selber lange auch dieser Meinung. Wurde aber kürzlich an folgendem Beispiel eines Besseren belehrt. Und das ging so:

Ich sass auf einer Parkbank in momentan gehörigen von der Regierung verordneten oder zumindest streng empfohlenem Abstand von mindestens 2 Metern zu zwei offensichtlich gut befreundeten Damen, deren Alter ich so zwischen 30 und 40 einschätzen würde. Ich musste es ungewollt mithören, da es seitens der einen von beiden Damen sehr lautstark, teilweise von Rage und Verzweiflung angetrieben, vonstatten ging. Sie sagte, sie habe immer sehr gute jobs mit gutem Lohn auf der höheren Ebene von Geschäftsführerassistenz belegt und daher nie ein Problem gehabt, ihren Zahlungsverpflichtungen pünktlich nachzukommen. Auch mit den Schulden, die ihr entschwundener ausländischer Lebenspartner ihr aufgebürdet hatte, und für die sie gemäss Schweizer Recht solidarisch haften musste, kam sie mit monatlichen Abzahlungen einigermassen gut klar. Und jetzt war’s plötzlich aufgrund des weitgehenden vom Bundesrat (d.h. den Ministern der Schweizer Bundesregierung) verordneten wirtschaftlichen nahezu „lockdowns“ zappenduster, so zu sagen: „Ende der Fahnenstange“. Also mal der Reihe nach:
Ihr schlitzöhriger Chef, der kaufmännisch erfahren und gewieft und bauernschlau – so zu sagen eben nicht „von gestern ist“ – traute der Aussage des Bundesrates nicht, gemäss welcher das Kurzarbeitergeld ganz unbürokratisch, eben – wie der Schweizer sagt: „schpeditiv“ – ausgezahlt würde. Er wollte daher nicht, dass sein Personalchef den zeit- und kostenverursachenden Antrag auf Kurzarbeitergeld bei der Behörde stelle. Der Personalchef musste – ob zwar eher widerwillig – der Dame den Arbeitsvertrag auf Teilzeitarbeit auf Abruf von nur 30% Pensum ändern. Da war mit ihm rein gar nichts zu machen. Er war vom Schlage eines US corporation Bosses, welcher sagt: „My way or the highway“! (Entweder so, wie ich will, oder du bist draussen!).
 Den Rest könne sich die Dame dann als Arbeitslosengeld – allerdings um 30% gemindert – von der RAV/UNIA besorgen. RAV bedeutet in der Deutsch-Schweiz „Regionale Arbeitsvermittlung“, und sie entspricht in etwa der deutschen Behörde „Deutsches Arbeitsamt“. Die UNIA ist eine schweizerische Gewerkschaft, die in enger Zusammenarbeit mit der RAV für die Auszahlungen des Arbeitslosengeldes zuständig ist. Tja, dachte ich: Da kann man nur sagen: „Worum aifach, wänn’s au dopplet goht“, bzw. – zum Mitschreiben: Warum einfach, wenn’s auch kompliziert, zeitaufwendig, schikanös, schleppend, kurzum: Echt bürokratisch geht“?! Im Gespräch kamen die Einzelheiten zutage, und Achtung! Sie sind umwerfend:
Zur RAV in’s Büro konnte die Dame nicht gehen. Auch das RAV machte jetzt „home office“, d.h. die beamteten kündigungsgeschützten Sachbearbeiter und  Sachbearbeiterinnen machen die Arbeit online und/oder per Telefon von zuhause aus. Der momentane Andrang muss wohl einer grossen Schneelawine aus den Hochalpen gleichkommen. Nichtsdestotrotz muss nach strengen bürokratischen Vorgaben und Vorschriften vorgegangen werden.  Die antragstellende Person muss zunächst mal eine Unmenge von Fragebögen ausfüllen und Daten Beschaffen und nicht etwa online und gescanned, sondern per normale Schneckenpost einsenden.
Bei einer Gegenfrage dazu kommt keine Antwort, sondern der behördenübliche Satz: „Mir chönnt au anderscht“ (wir können auch anders) und das bedeutet und wird auch so gesagt: „Wänn Sie nöd wännt, dänn mömmier au nüd mochä“ (Wenn Sie das nicht wollen, dann müssen wir auch nichts machen). Aber man will ja, weil man ja muss. Man will ja weiterleben. Die Dame hatte große Routine im darstellenden Verfassen von neuzeitigen Bewerbungen und hatte solche auch bereits im Umlauf. Einige Firmen hatten bereits in Interviews grosses Interesse an ihrer hundertprozentigen Mitarbeit gezeigt, wollten momentan aber erst mal zuwarten, wie sich die Lage mit der Covid-19 entwickelt. Kopien der Bewerbungen mit Lebenslauf und Zeugniskopien wurden natürlich auch an die RAV geschickt.
Nur dort wurden sie offenbar gar nicht gelesen, denn die Sachbearbeiterin vom RAV sagte der Dame am Telefon, sie solle sich sofort bei der Firma so und so bewerben, die Suche einen Gabelstaplerfahrer. Es könnte aber auch eine Fahrerin sein. Außerdem müsse sie sofort einen Kurs besuchen, der von der RAV grosszügigerweise von Steuergeldern finanziert wird, wo man lerne, wie man Bewerbungen schreibt. Die Dame wartete zu diesem Zeitpunkt schon mehr als einen ganzen Monat auf das ihr zustehende Geld, das sie bis dato ja jeden Monat in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hatte. Sie war da schon mit den wichtigsten grösseren Posten wie Krankenkassenprämien, Wohnungsmiete, Leasinggebühr für’s Auto, Abzahlungsrate für Bankkredit, usw. in Zahlungsverzug.
Echt gefährlich konnte ihr das bei der Wohnungsmiete werden, denn das Schweizer Mietrecht sieht vor, dass der Vermieter schon bei nur einem Tag Mietzahlungsverzug des Mieters, diesem problemlos kündigen darf. Hat der Mieter dann auch noch „Betreibungen“ (schweizerisches behördliches Zwangsinkasso) gegen sich laufen, dann hat er auch keine Chance eine neue Wohnung zu bekommen. Kein Vermieter würde ihm eine Wohnung geben, wenn auf dem kostenpflichtigen Betreibungsauszug vom Betreibungsamt ein Eintrag in Erscheinung tritt. Auch würde ihr kein neuer Arbeitgeber eine Stelle geben, wenn sie so einen Eintrag und dazu auch keine feste Wohnadresse hätte, welche von der Meldestelle beim Wohnungsamt der Gemeinde auch nur dann erteilt wird, wenn man eine Wohnung als Eigentum oder in Miete hat. Zwar hatte der Bundesrat die Betreibungsämter angewiesen Betreibungen vorübergehend auszusetzen, aber die FDP (Die Schweizer Freie Demokratische Partei), die damit die Interessen ihrer „Klienteel“ aus Wirtschaft und Finanz als negativ tangiert ansah, bestand darauf, dass die Betreibungssperre vorzeitig wieder aufgehoben würde. Für die Dame war binnen kurzem Obdachlosigkeit nicht so einfach nur daher gesagt, sondern eine akute Gefahr. Auch durfte sie in ihrem Fitness-Center, als dieses wieder aufmachen durfte, nicht trainieren, weil sie jetzt dort mit dem Mitgliedsbeitrag in Zahlungsverzug war.
Auf Ihr Schreiben mit Abzahlungsvorschlag hat das Center erst gar nicht geantwortet, sondern gleich ein Inkasso-Büro auf sie angesetzt. Dieses hat zwar den Abzahlungsvorschlag akzeptiert, ihr dabei aber gestützt auf Art. 103 bis 106 des OR (Obligationenrecht) gute 30% auf den Beitrag zusätzlich aufgebrummt. Die Inkasso-Büros haben momentan Hochkonjunktur. Sie wissen, dass der Bundesrat das OR nicht ausser Kraft setzen kann. Sie gehören zu den wenigen Gewinnern der Covid-19 Pandemie, von der noch kein Mensch wissen kann, ob und wann diese ein Ende findet wird und welchen wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch volksgesundheitlichen Schaden durch bleibend geschädigte Organe und Blutgefässe bei Genesenen sie dann verursacht haben wird.
Nun, ich möchte hier den Teufel nicht an die Wand malen. Muss ich auch nicht, denn er steht ja schon drin. Leider kann ich auch die Fortsetzung der Geschichte der hier abgehörten Dame nicht zu Ende erzählen, denn die beiden Damen hatten sich von ihrer Parkbank erhoben und gingen ihres Weges. Fest steht, dass ich ihr und allen anderen in gleicher oder ähnlicher Lage ein „Happy End“ von Herzen wünsche.
Der ganzen Menschheit wünsche ich, dass sie schnellstmöglich das Ende des anachronistischen Beamten Statuses los wird, auf dessen Mistbeet die fortlaufend exponentiell ausartende Bürokratie solche Blüten treibt. Sie ist eine Erbschaft aus der deutschen Kaiserzeit, als einzig die Aristokratie das Sagen im Staate hatte. Warum ausgerechnet auch die seit Beginn ihrer Gründung demokratische Schweiz ohne eine Monarchie diesen Blödsinn völlig unnötigerweise eingeführt hat, der jetzt wie eine Klette an ihr klebt, ist mir für mich unerfindlich. Denn hier ist das Volk der Souverän, und nicht ein Monarch „von Gottes Gnaden“.  Ich selber werde es mit meinen jetzt 84 Jahren auf dem Buckel höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben, aber allen meinen Nachfahren inklusive derer meiner Mitmenschen wünsche ich ebenfalls von Herzen eine bessere Welt.
So, dankeschön für’s Lesen. Das war’s.
 

1 Kommentar

  1. Gut geschrieben Wolfgang
    Vor vielen Jahren haben wir einmal in Spreitenbach in dieser Verpackungsdruckerei zusammen gearbeitet.
    An Deine erfrischenden Gespräche erinnere ich mich gerne zurück.
    Vielleicht sieht man sich wieder einmal ? Mich würde es freuen.
    Herzlichen Gruss
    Fredi

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