Ich mag Nachdenken

Volkskorrespondet Kalle Schulze, Sassnitz – 20. Dezember 2022

Kalle Schulze

Bei trübem Wetter begegnen uns zu weilen auch trübe Gedanken, – was machen Menschen, die in diesem System wirklich alles bis auf eine zerfetzte Unterhose und ein Unterhemd, verloren haben? Es ist Dezember, überall plärren die politischen, christlich verbrämten Weihnachtslieder aus den modernen Göbbelsschnauzen(1). Doch kein soziales Geschwafel, keine Versicherungen, dass es anderen noch schlechter ginge und nicht einmal eine sachliche Argumentation stillen Durst noch Hunger.

Ein Mensch mit einem früheren ehrlichen Leben steht an der Kliffkante eines Rügener Kreidefelsens. Vor sieben Tagen aus dem Stralsunder Knast auf die kalte Straße entlassen, ohne Wohnung, ohne Geld und somit auch ohne Nahrung. Dieser Mensch sieht nun auf die Ostsee und die Tiefe schauend, hat er womöglich Tränen in den Augen. Durch seinen Kopf rast der Gedanke: „Springe ich oder springe ich nicht?“ Und „welchen Sinn hatte mein Leben“, sind vermutlich die letzten positiven Gedanken. Es sieht sich fallen, ganz tief fallen, er fällt und fällt und kein Ast oder Gestrüpp fängt ihn auf. Im Fallen sieht er, womöglich sich selbst als Kind oder im jugendlichen Alter, wie er selbst die Welt erobern wollte. Er bekommt einen Schreck und wird auf die Kliffkante zurück geschleudert.

Was hat sich verändert? – Es hat sich nichts verändert. Er ist in einem Strudel gefangen, der keine Strickleiter zur Rettung kennt. Unten im Strudel lachen der Deutsche Michel(2) und alle wohlsituierten, unsolidarischen €-Wohlstandsbürger, in ihren immer noch den Banken gehörenden Datschen, ohne selbst zu erkennen, wie nah sie selbst dieser Kliffkante sind.
Jedoch manchmal geschehen auch Wunder, man muss nicht unbedingt an der Kante stehen, wenn der ganze Fels abrutscht.
Irgendwann verlässt unserer Person auch dieser letzte Aufschreck zum Überleben und diese affenfreie Gesellschaft hat keine Hilfe mehr für uns. Dann ist es an der Zeit, Grenzen zu ziehen.
Diesen Text widme ich einen ehemaligen Stabchef der NVA Einheit, in welcher ich selbst tätig war. Er war nicht mein persönlich angezogener Freund, er war Major und gewiss immer gerade heraus. Er hatte sich sein Leben, wie auch ich, etwas anders vorgestellt.
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(1) Göbbelsschnauze

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