Volkskorrespondent Heinz Ahlreip – 8. Januar 2022
Bekanntlich lautete die ökonomische Kernforderung der Bauern in den Bauernkriegen die Abschaffung des Zehnten, der dem Klerus ohne Gegenleistung zufiel. In seiner Kampfschrift über den deutschen Bauernkrieg bezeichnete Friedrich Engels diese Forderung, die die Existenzgrundlage von Obrigkeit überhaupt angreift, als eine Antizipation des Kommunismus in der Fantasie. Tatsächlich entwickelte sich der Kommunismus theoretisch zunächst als ein utopischer. Man begriff die ausgebeuteten Bauern, Handwerker und Arbeiter nur als leidende Klassen, nicht als revolutionär selbsttätige.
Diese fortschrittlichen Utopisten finden wir vornehmlich in der Vorgeschichte und in der Geschichte der französischen Aufklärung, die die radikalste von allen nationalen Aufklärungsbewegungen in Europa war. Sie leisteten einen Beitrag zum regen Verständnis gesellschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge und dazu, wie sich das menschliche Wissen über die kommunistische Organisation gesellschaftlicher Arbeit entwickelt hat. Ihre Widerspiegelungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten waren nicht direkt falsch, zunächst grob, verfeinerte sich der utopische Sozialismus bis zu einem qualitativen Sprung (Marxens ‘Elend der Philosophie‘, das ‘Manifest‘) in den wissenschaftlichen Sozialismus. Bis zu diesem förderte der utopische Sozialismus mannigfaltig das frühproletarische Klassenbewusstsein und brachte unbehauene Puzzlesteine für den wissenschaftlichen Sozialismus hervor.
Als erster fällt uns in der Chronologie ein Dorfgeistlicher auf. Tatsächlich ist er es, der eine neue Etappe in der Geschichte des utopischen Kommunismus aufschlägt. Jean Meslier lebte von 1644 bis 1729, er war ideologisch ein Vertreter der Dorfarmut und vertrat eine mechanisch- materialistische Position im ideologischen Kampf gegen den Idealismus und das Pfaffentum. Seine wichtigste Schrift war das sogenannte ‘Testament‘. Zu Lebzeiten erschien sie nicht, es war Voltaire, der 1762 Auszüge aus ihr veröffentlichte. Nur leider muss man sagen, dass der Deist Voltaire, er glaubte noch an einen ersten göttlichen Beweger des Alls, aus dem Testament des atheistischen Dorfgeistlichen nur die zahmsten Stellen zu publizieren wagte, obwohl er ein halbes Jahrhundert später als Meslier geboren wurde. Das deutet schon die Brisanz des ‘Testaments‘ an, in dem sich erstmals atheistische und kommunistische Auffassungen verbanden. Meslier wendete eine derbe Sprache an, eine aus Schrot und Korn, die dem Ästheten Voltaire nicht behagen konnte. Meslier, der als der größte politische Schriftsteller der Aufklärung vor 1789 gilt, hielt es für angebracht, “die Pfaffen an ihren eigenen Gedärmen aufzuhängen“ (google: lenin unser aller lehrer meslier gedärme). Das ist doch ganz die Sprache der robusten Bauernkriege und der urwüchsigen Primitivität der Volksmassen. Damit schwamm er gegen die Strömung und gegen den guten Ton der bürgerlichen Aufklärung.
Liest man heute politische Texte in Zeitungen, die sich als links aufspreizen, so spürt man regelrecht, wie sie gezärtelt, gefeilt und à la Voltaire geglättet worden sind – und am Ende gelten die Kapitalisten nicht mehr als Parasiten, sondern gehören zur Welt, die nach den Wunschträumen dieser Phantasten bunt statt braun zu sein hat. Am 26. Oktober 2021 fand vor der konstituierenden Versammlung des neuen Bundestages, in dem kein einziger Pauper sitzt, ein ökumenischer Gottesdienst mit irrationalen Abgeordneten des Parlaments statt, die als blökende Schafherde eines fiktiven Hirten damit schon anzeigen, dass sie weder im Dienst des Volkes noch in dem der Wissenschaft stehen. Mit diesen kann weder etwas für das Wohl noch für das Glück des Volkes erreicht werden. Ich überlasse es der Fantasie des Lesers, was der atheistische Dorfgeistliche aus dem 17. Jahrhundert zur Verfahrensweise mit diesen mittelalterlich-bestialischen Politschranzen vorgeschlagen hätte.
Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus zwei Welten, die sich nicht ergänzen, sondern sich stets entgegensetzen, eine Welt der Arbeit und eine Welt parlamentarischen Schwatzens, ergänzt durch terroristisch-militante Organisationen (Heinz Ahlreip), ergänzt durch pfäffische Faulenzerei. Dem fleißigen Wesen der Arbeiterklasse muss das faule und korrupte Wesen des bürgerlichen Parlaments fremd bleiben.
Aus der Verbindung des Atheismus mit dem Gemeineigentum wird sich ergeben, was St. Just in der klassisch-bürgerlichen Revolution zu der Aussage veranlasste: ‘Das Glück ist eine neue Idee in Europa‘. Meslier sieht im Privatbesitz von Grund und Boden die Quelle der gesellschaftlichen Übel und erkennt bereits fast hundert Jahre vor der französischen Revolution, dass eine politische Machteroberung der Bourgeoisie an der ökonomischen Ausbeutung der Volksmassen nichts ändern wird. Radikaler und richtiger kann man als Vorläufer der bürgerlichen Aufklärung und der bürgerlichen Revolution die Dinge nicht sehen. Die fortschrittlichsten Jakobiner bemerkten das in der Periode vom Sturm auf die Bastille im Jahr 1789 bis zur Machtergreifung Napoleons am achtzehnten Brumaire (9. November) 1799. Habt ihr eine Revolution ohne Revolution gewollt?, ruft Robespierre von der Tribüne des Wohlfahrtsausschusses den gemäßigten Girondisten, heute würde man ‘Sozialdemokraten‘ sagen, zu.
Aber, werden die in dem gegenwärtigen Ausbeutungssystem Befangenen entgegnen, deren Horizont nicht über landläufig eingefahrene Bahnen hinausgeht, ist das nicht eine zu extreme, zu radikale, zu linksextreme Sichtweise? Ich zitiere zum Beistand den jungen Engels, der uns über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus folgendes Schlüsselzitat hinterlassen hat: “Der Mensch hat aufgehört, Sklave des Menschen zu sein und ist Sklave der Sache geworden; die Verkehrung der menschlichen Verhältnisse ist vollendet; die Knechtschaft der modernen Schacherwelt, die ausgebildete, vollkommne, universelle Verkäuflichkeit ist unmenschlicher und allumfassender als die Leibeigenschaft der Feudalzeit, die Prostitution ist unsittlicher, bestialischer als das jus primae noctis“ (das Recht der ersten Nacht/H.A.) Höher kann der christliche (kursiv von H.A.) Weltzustand nicht getrieben werden …“ (Friedrich Engels, Die Lage Englands. Das 18. Jahrhundert, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,557). Also kommt es darauf an, dem perversen mittelalterlichen Parlamentsabschaum in einem Bürgerkrieg der schrecklichsten Art nachzuweisen, dass er perverser und inhumaner ist als Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, dass er folglich überhaupt kein Existenzrecht hat.
Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28.2.1952 in Hildesheim. Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover von 1975 bis 1983, Magisterabschluß mit der Arbeit „Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes“. Schwerpunkte der Forschung: Französische Aufklärung, Jakobinismus, französische Revolution, Politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.
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