Johannes Kepler erschien am Horizont der Wissenschaften zu einer Zeit, die nach Engels “Riesen brauchte und Riesen hervorbrachte, Riesen an Gelehrsamkeit, Geist und Charakter“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Werke, Band 20, Dietz Verlag Berlin,465). Einer dieser Riesen war der am 27. Dezember 1571 in der Stadt Weil, in arme, protestantische Verhältnisse hineingeborene Johannes, der wissenschaftsgeschichtlich wie Kopernikus als Denker der Renaissance verortet wird. Dieser allerdings, der Kepler vorarbeitete, wurde 1473 in Torun (Polen) in reiche, katholische Verhältnisse hineingeboren. Wie finster auch die Zeit Keplers noch war, wird schon allein dadurch unterstrichen, dass seine Mutter als Hexe verfolgt wurde, ihr überdurchschnittlich intelligenter Sohn sie aber vor der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen retten konnte.
Zugleich war es aber auch eine Zeit des Umbruchs, in der positive Marksteine für eine hellere Zukunft der Menschheit gesetzt wurden. Die Wissenschaften entzogen sich mehr und mehr ihrer Bevormundung durch die Theologie und der Triumph der Physik über die Metaphysik zeichnete sich, wenn auch mit Rückschlägen versehen, unaufhaltsam ab, ein unendliches Universum ohne Gott verheißend, der nach altem Weltbild jenseits der Fixsternsphäre hauste. Die Naturwissenschaften verlegten sich auf Experimente. Als fix gesetzte Kategorien gerieten ins Wanken. Es dauerte nicht lange, und Descartes wird den Zweifel an alten, überlieferten Anschauungen zu einer wesentlichen Aufgabe des Philosophierens erklären, ohne Zweifel gibt es keine Gewissheit. Ich bin mir erst durch zweifelndes Denken, das alles begründet, meiner selbst bewusst. Gott hat mir kein Leben geliehen. Der Boden unter den Füßen der alten Philosophie fing an zu wanken. Weltanschaulich lagen das geozentrische bzw. theozentrische, den Papst als Mittelpunkt des Universums postulierend, und das heliozentrische, auf die Sonne fokussierte Weltbild über Kreuz. Nach Kopernikus war die Erde nicht der Weltmittelpunkt, sondern sie war Mittelpunkt nur für die Mondbahn, sie vollzieht jeden Tag eine Eigendrehung um ihre Achse und kreist pro Jahr einmal um die Sonne. Das war das letzte Wort der Wissenschaft, das die “Diktatur des Papstes“ (Engels) unterhöhlte. Der das Monopol über alle weltlichen und weltanschaulichen Fragen beanspruchende Vatikan wütete mit einer pervers-exzessiven, faschistische Terrormethoden vorwegnehmenden Inquisition gegen alle Abweichungen vom offiziellen Katholizismus und gegen die Degradierung seines obersten Hirten. Die Protestanten waren aber nicht viel besser, Calvin ließ zum Beispiel in der evangelischen Stadt Genf den Reformator Servet am 27. Oktober 1553 verbrennen. Man lebte damals wie heute noch gefährlich als materialistischer Wissenschaftler im Besonderen und als denkender atheistischer Mensch im Allgemeinen. Die urbane Bourgeoisie erhob sich gegen die Demütigungen durch Adel und Klerus und beanspruchte perspektivisch die politische Führung der Nation. Kepler, in dessen Werk sich sogar erste Anhaltspunkte für den erst später aufkommenden, zunächst fortschrittlichen mechanischen Materialismus finden, arbeitete der aufstrebenden Bourgeoisie zu. Der Bau der Welt sei analog einem göttlichen Uhrwerk zu denken. Es waren die Deisten zur Zeit der bürgerlichen Aufklärung, die ihre Religion mit Hilfe einer Uhr erklärten: Gott sei zwar der Uhrmacher des Alls, dieses tickt dann aber eigenständig ohne göttliche Eingriffsmöglichkeit vor sich hin, eine Positionierung gegen die Okkasionalisten, die vertraten, dass Gott bei rechter Gelegenheit aus Gründen der menschlichen Erkenntnis der Wahrheit in das Weltgeschehen eingreife.
Kepler ist 18 Jahre alt, als er ab 1589 an der Hohen Schule zu Tübingen evangelische Theologie studiert. Zweifel an diesem Fach bestürmen den jungen Mann, als Magister bricht er mit der Theologie, aber nicht mit der Religion überhaupt. Vielmehr fasziniert ihn die Astronomie. Und in ihr tritt er epochemachend auf. Er entdeckt die bis heute geltende Gesetze der Planetenbewegung als nicht kreisförmige, sondern als elliptische, mit der Sonne als Mittelpunkt. So lautete das erste Keplersche Gesetz, dem zwei weitere folgen sollten: Die Verbindungslinie Sonne-Planet überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen und drittens: Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen der großen Bahnhalbachsen (Vergleiche Almut-Jutta Häusler, Kepler, Johannes, in: Philosophenlexikon, Dietz Verlag Berlin, 1984,467). Aber auch die Frage: Kreis, den noch Kopernikus, seines Zeichens Domherr von Frombork, als ausgemacht hielt, oder Ellipse? hatte einen weltanschaulichen Gehalt: Kepler zerstörte den auf Aristoteles zurückgehenden, von der Scholastik, die ihn als ihren Kernphilosophen ansah, in Schutz genommenen Mythos zweier Welten, einer himmlisch-vollkommenen und also höherwertigen und einer profanen irdischen (sublunaren). Überdrehte, bis in die Antike zurückreichende Vorstellungen über die Welt wurden verscheucht, das Auge des Menschen wurde nüchtern. Aristoteles, mit dessen Demontage, und die Liste derer, die sich an ihr beteiligten, ist lang, der Zweifel an einer teleologischen Vorbestimmung der Natur anstieg, hatte gelehrt, und die Scholastiker des Mittelalters plapperten es ihm unentwegt nach, dass im Himmel die Bewegungskonstanz herrsche, alles sei hier unveränderlich, gleichförmig und als ideal-konstant gilt seit Platon die Kreisbewegung. Dieses ideale Übergewicht einer eingebildeten Welt über die reale zerbrach, es gibt für die menschliche Wissenschaft nur EINE Physik. Was zunächst wie eine Reduktion aussieht erweist sich als ungemeine Horizonterweiterung: Der Begriff der Natur konnte mit dem Grab Gottes unter den Füßen auf den ganzen Kosmos ausgedehnt werden. (Vergleiche Helmut Koch, Copernicus, Nicolaus, in: Philosophenlexikon, Dietz Verlag Berlin, 1984,165). Kepler leistete einen wesentlichen Beitrag zur Lehre von der materiellen Einheit der Welt. Bei Kepler liegt hier jedoch zugleich ein Nachklang der Lehre Luthers vor, dass der gläubige Mensch keine Priester, die das wesentliche Buch gelesen haben, als biblisch bewanderten Brückenschläger zwischen zwei Welten braucht, aber von der Existenz Gottes und damit zweier Welten musste Luther als Theologe natürlich noch ausgehen. Luther, zehn Jahre jünger als Kopernikus, verwarf die Heilige Schrift zitierend mit voller Wucht die kopernikanische Wende. „Wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht die Erde!“ Indem die für uns sinnlichen wahrnehmbare Welt, lax formuliert, die eigentliche wird, ändert sich die Relation zwischen Wesen und Erscheinung. Das Wesen muss nach dem Tod der Metaphysik jetzt weltimmanent verhandelbar sein, die Forschung macht sich auf Erden auf den Weg, denn alles ist jetzt irdisch geeicht, die Materie entwickelt die Formen aus sich selbst, die Forschung schaut nicht mehr in die Unergründlichkeit Gottes als Zuflucht, als einer behelfsmäßigen Lösung und als Ausrede. Ein durch und durch verblendeter und geblendeter Mensch, der Papst, wird aus dem Mittelpunkt der Erde gestoßen, aber das heißt nicht, dass die Erde nunmehr zu etwas Peripherem geworden ist, im Gegenteil, Engels spricht von der größten “Revolution, die die Erde bis dahin erlebt hatte“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Werke, Band 20, Dietz Verlag Berlin, 1960,464) und dass die Erde jetzt erst eigentlich entdeckt worden sei, dadurch, dass sie sich aus sich selbst erkläre. Die Wissenschaft war drauf und dran, den Pfaffen die Bibel aus der Hand zu schlagen. Das Buch, das jetzt in schärfster Konkurrenz zur Bibel stand, trug schon im Titel das Wort ‘Revolution‘, es war im März 1453 erschienen: “De revolutonibus orbium coelestium Libri VI“. Zum ersten Mal hielt Kopernikus es am 24. Mai in den Händen, und zum letzten Mal, es war sein Todestag. Er erlebte nicht mehr, dass es als absurdes Buch auf den vatikanischen Index kam, wo es bis 1822 blieb.
1609, Kepler war 38 Jahre alt, erschien sein Hauptwerk ‘Neue Astronomie‘, zehn Jahre später sein naturphilosophisches Hauptwerk ‘Kosmische Harmonie’, in dem noch Elemente der pythagoreischen Harmonielehre aufgenommen worden waren. Aber Kepler überwindet die antike Auffassung, dass eine auch noch von Bruno behauptete Weltseele die Welt regiert, das immerhin; gleichwohl schafft er, wie gesagt, nicht den Durchbruch zum Atheismus, aber wer will ihm das vorwerfen; in der Immanenz der naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen (Astronomie, Mathematik, in ihr Anfänge der Integral- und Differentialrechnung, und Physik, wesentliche Beiträge zur Sehfehlerkorrekturen durch Brillengläser, Weiterentwicklung eines astronomischen Fernrohrs, das 1608 im freidenkerischen Holland entdeckt worden war) hat er Gigantisches geleistet, standen doch die Gesellschaftswissenschaftler der damaligen Zeit, bei denen die Gefahr des Irrwegs zum Idealismus größer ist als bei den Naturwissenschaftlern, noch viel stärker in der Spannung zwischen der Renaissance- und der neuzeitlichen Philosophie. Die Naturwissenschaften der damaligen Zeit hatten nur einen großen Nachteil, die Natur galt ihnen als bewegungslos in der Zeit, ein Nebeneinander sehr wohl, aber zeitlich bleibt sie sich immer selbst gleich, von Anfang an und bis in alle Ewigkeit. Wie sollte sich so eine Bewegungs- bzw. Prozesswissenschaft, Dialektik entfalten können? Ansätze sieht man, aber die Dialektik erzitterte noch vor sich selbst, bevor sie begann, das Zittern zu lehren. Descartes ist der Mann, der als Begründer der modernen Philosophie gilt, wurde erst 25 Jahre nach Kepler geboren. Dessen in seinem Werk eine zentrale Position einnehmenden ‘Meditationen‘ wurden von der Universität Sorbonne in Paris als atheistisch verworfen, die in ihnen enthaltenen zwei Gottesbeweise werteten die Professoren als vorgeschoben. Auch der erste Teil von Keplers ‘Lehrbuch der Astronomie‘, zwischen 1617 und 1621 verfasst, schaffte sofort den Sprung auf den vatikanischen Index.
In welchem Widerspruch sich der Astronom Johannes Kepler entwickelte, lässt sich vielleicht am bildhaftesten an seiner Haltung zur Astrologie veranschaulichen. Er verwirft sie als unwissenschaftlich; glaubt aber noch an einen bestimmenden Einfluss der Sterne bei der Geburt eines Menschen. Er erstellte aus Gründen des Broterwerbs selbst noch Horoskope (Vergleiche Almut-Jutta Häusler, Kepler, Johannes, in: Philosophenlexikon, Dietz Verlag Berlin, 1984,469). Das Wort Gott wird immer noch verwandt, nur noch als Wort, wenn er schreibt, dass die Materie nächst Gott das einzige und höchste Objekt sei, sie strebe aus ihrem eigenen Wesen göttlicher Geometrie zu, Genialität und Unsinn liegen hier dicht nebeneinander, er reicht dicht heran an die Absolutheit der Materie. Wir sind heute über den mittelalterlichen Unsinn hinaus, sollten aber vorsichtig sein, Kepler zum alten Eisen zu werfen. Er ist sogar noch politisch unser Zeitgenosse. Er litt unter den “elenden deutschen Verhältnissen“ (Engels) und störte sich an der feudalen Zersplitterung des Deutschlands seiner Zeit, und belegt nicht die heute grassierende Coronapandemie, wie sehr die Menschen durch den veralteten Föderalismus in einen Wirrwarr gestürzt worden sind und noch werden? Die zentralistische Republik bot und bietet mehr Freiheit als die föderalistische (Vergleiche Lenin, Staat und Revolution, Werke, Band 25, Dietz Verlag 1960,462). Und an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert schon weiter zu sein als unsere heutigen Politikaster im 21. Jahrhundert, das macht eben wissenschaftliche Riesen aus, neben denen jene sich wie Zwergmissgeburten ausnehmen.
Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28.2.1952 in Hildesheim. Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover von 1975 bis 1983, Magisterabschluß mit der Arbeit „Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes“. Schwerpunkte der Forschung: Französische Aufklärung, Jakobinismus, französische Revolution, Politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.
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