Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949
Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.
Harry Popow – 13. April 2019
Bei Präsident Pieck
Donnerwetter, so ein Glück, sagen Mama und Papa, als sie ihr Mietwohnhaus in Berlin–Schöneberg unzerstört wiedersehen. Hier hat die Familie vor der Evakuierung gewohnt. Aber deren Wohnung in der dritten Etage links ist inzwischen besetzt, die Ziebells dürfen in die zweite Etage rechts. Aber noch heulen herzzerreißend und furchterregend die Sirenen. Nacht für Nacht, manchmal auch tagsüber. Sie müssen im Keller bleiben. Provisorisch sind Bettgestelle aufgebaut, manchmal liegen nur Matratzen da. Brot auf Zuteilung, gleich für mehrere Tage. Wenn irgendwo Bomben heulend und krachend in Häuser schlagen und die Erde bebt, dröhnt und stöhnt, dann bleibt das Herz stehen vor Angst. Jede Sekunde kann es auch das eigene Miethaus erwischen, jede Minute … Papa muss nun doch noch an die Front, zum Volkssturm, wie er sagt. Nach drei Tagen ist er wieder da. Dort, wo er sich melden sollte, seien schon die Russen. Wie froh die Kinder sind … Henry hört, wie er Mama von Menschen berichtet, die an Laternen aufgehängt wurden, an ihnen ein Schild mit der Aufschrift: Ich bin ein Verräter. Es ist alles so schrecklich und gruselig. Eines Nachts nimmt Papa seinen Größten mit aufs Dach des Hauses. Der Ängstliche sieht die langen bläulich-weißen Strahlen der Scheinwerfer, die den Himmel nach Flugzeugen abtasten. Dann schrillen wieder die Sirenen. Henry schaut tapfer und zitternd. Papa lässt ihn wieder frei und Mama schimpft unten im Keller.
Nach vielen, vielen Tagen stehen an der Kellertür Soldaten, später erfährt Henry, es waren Mongolen. Sie wollen irgendetwas. Man holt Mama, sie sei doch Russin. Die Soldaten wollen nur etwas Tee, doch zuvor muss sie einen Schluck nehmen. Das ist selbstverständlich, sagt Mama, sie müssen vorsichtig sein, sind natürlich mißtrauisch. Es muß der neunte Mai gewesen sein, Henry streift sich nach dem Aufstehen soeben lange Strümpfe über, da sagt seine Mutter ganz leise, als würde sie es noch nicht glauben, den folgenschweren Satz: „Ab heute ist Frieden.“ Sie drückt ihren Ältesten und hat Tränen in den Augen …
Elektrischen Strom gibt es vorläufig nicht. Papa stellt ein Fahrrad in den Flur und auf den Kopf, drückt den Dynamo an die Reifen, legt Leitungen in die Küche und in die Wohnstube, und Henry darf die Pedalen schwingen. Die Lämpchen glimmen auf. Die Kinder sind stolz auf Papas Erfindungsgeist. Und froh und neugierig machen Henry, Sophia und Axel die Erzählungen von Mama über ihr Russland: über die Datsche ihrer Tante, über die Blumen, über Tanten, über deren Kuchen, über das viele Spielzeug von Mama, das man auf einem Foto sehen kann. Ihre Heimat darf den Kindern nun näher kommen, sie wird so vertraut werden, dass die Kinder sich wünschen, bald nach Moskau zu ziehen, so träumen sie von einer glücklichen Zukunft, die ihnen die warmherzigen Worte ihrer Mutter eingibt. Das gräbt sich in Henrys Bewusstsein so fest ein, dass er in der Schule die Sowjetunion als „schon immer gut“ verteidigen wird gegen die Behauptung, sie hätte erst einmal eine Revolution machen müssen, bevor sie ganz prima wurde.
Bei Ziebells herrscht kurz darauf trotz der Freude über den Frieden schmerzliche Trauer. Berno, der zweijährige Bruder, hat Lungenentzündung, und, er schafft es nicht. Unser Bruder! Mama ist kraftlos auf den Fußboden gesunken im Hausflur und schluchzt und schluchzt herzzerreißend, die Kinder zittern und heulen. Damit nicht genug: Arnold, der jüngste, hat Keuchhusten. Er wird an den Beinen nach oben gehalten, wird mit Fett (Margarine oder?) eingerieben. Wie durch ein Wunder – er wird gerettet. Langsam erobern die Kinder der Ziebells wieder die Straße. Aber vor die Haustüre treten darf nur, wer eine weiße Armbinde trägt. Henry hat keine, will aber wissen, wie weit er sich hinauswagen darf. Also schneidet er sich zwei Streifen weißes Papier zurecht, befestigt sie an beiden Oberarmen. Tür auf und mal sehen, was da passiert. Er dreht seine Arme aber nach hinten. Auf der anderen Straßenseite hockt in einer Hausruine ein Soldat. Henry sieht den Lauf einer Waffe, der sich nach oben bewegt, direkt auf Henry. Der kriegt Schiss. Da streckt er seine zwei Arme mit den Binden vor. Der Lauf senkt sich wieder. Der Junge holt tief Luft, er ist fast stolz auf seine Mutprobe und daß er die geforderten Binden vorzeigen konnte. Mit paar Freunden zieht er zur nächsten Straßenecke. Dort war mal eine Panzersperre. Die sollte den „Feind“ aufhalten. Doch die Kinder sehen nur einen zerschossenen und niedergewalzten Trümmerhaufen. Knorke, wie die Russen das gemacht haben, bestätigen sie sich gegenseitig. In den Ruinen stinkt es. Brandgeruch. An einer Pumpe holen sich die Leute Wasser. Ein russisches Pferdefuhrwerk hält, Soldaten verteilen Schwarzbrot. „Chleb“ heißt das Brot, sagt die Mutter. Sie ist so stolz auf ihre Landsleute, auf ihr großes Land. Und wieder muss sie davon berichten, von blühenden Bäumen im Garten ihrer Tante bei Moskau, von einem Bild voller Schönheit, wo das Edle und Gute zu Hause sind. Die Kinder glauben fest an ihre Erzählungen, besonders der Henry, der ewige Träumer. Und so setzt sich fest in seinem Inneren ein Bedürfnis nach Harmonie, nach Menschlichkeit, Schutzschild und Richtschnur für Visionen zugleich …
Zum Inhalt
Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Popows wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!
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Empfehlung Info-Welt:
Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
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