Eine kleine Geschichte

Beispiel für ein Großraumlger. Bild: YpuTube screenshot

Nein, nicht alles ist vorhersehbar und planbar. Wie so oft werden wir von Ereignissen überrascht und denken: „Das passt ja gar nicht in meinen Plan.“ Ist es nicht so, dass wir manchmal frustriert sind, wenn unsere auf Papier schön aufgezeichnete Liste, der Fahrplan, auf einmal durchkreuzt wird. Nun ja, in diesem Moment wird einem wieder bewusst, dass man/frau nicht immer alle Zügel in den Händen hält, sondern um uns eben vieles existiert, das nicht darauf achtet, was man/frau eben gerade so vorhat.

Sidar Çarman – 15. Oktober 2019
zur Verfügung gestellt von Arbeiterkampf

Im Kontext betrieblicher Kämpfe und Selbstorganisation von Arbeiter*innen kann sich das u.a. darin äußern, dass das jahrelange Erdulden von ungerechten Arbeitsbedingungen in einem bestimmten Moment sich überschlagen kann in ein Handeln. Eben das ist in einem Zentrallager eines Farbgroßhändlers in der Nähe von Stuttgart passiert. So kann es nicht mehr weitergehen, sagten sie und setzten sich ins Auto. Ihr Ziel: Ihre Gewerkschaft.

Ich sitze mit 5 jungen Lagerarbeitern im Büro zusammen. Sie sind zwischen 23 und 26 Jahren jung, vier von ihnen sind türkeistämmig – der fünfte, das ist der „Christian“. Wir lachen. Sie erzählen von ihren Arbeitsbedingungen. Das Lager beliefert täglich tausende Produkte an über 30 Niederlassungen in Baden-Württemberg und Bayern. Aufträge gibt es auch von den sog. Großkunden, größere Betriebe/Unternehmen. Ich frage ahnungslos, ob auch Daimler zum Kundenkreis gehört. Sie lachen alle: „Nein, dafür sind wir zu klein. Der bezieht seine Farbe, sein Lack direkt vom Hersteller, von der BASF.“ Ich lache mit und über meine Frage.

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Tamer ist der Kopf der Gruppe. Sedat ist mit 26 der älteste und einer der Lagermeister. Christian ist der größte unter ihnen und der Stellvertreter von Sedat. Turan ist der ruhige. Meine vergeblichen Versuche, mich gerne Duzen zu können, wenn er mich mit „Sie“ anspricht, scheitern. Zumindest bringe ich ihn damit zum Lachen, wenn ich sein Sie in ein Du korrigiere. „Ich bin ein einfacher Arbeiter“, sagt Engin über sich selbst. Er ist der jüngste und der kleine Bruder von Tamer. „Wir haben keinen Bock mehr, wir wollen einen Betriebsrat gründen.“, sagt Tamer. „Meinen Bruder habe ich mit in die Gruppe genommen, weil er meine schwächste Seite ist. Ich brauche ihn, damit ich stark bleibe und ich ihn schützen kann.“ Er berichtet weiter: „Das, was bei uns abgeht, ist nicht normal. Letzte Woche waren die Leute von 9 Uhr morgens bis 20 Uhr im Lager. Wir schuften, aber es gibt keinen Respekt. Der Chef macht, was er will. Einer ist seit Jahren im Lager. Er verdient weniger als einer, der erst vor wenigen Wochen begonnen hat. Sie machen die gleiche Arbeit. Ist das normal? Also, wir fünf, wir wollen das durchziehen, mit dem Betriebsrat. Die Leute sind bereit. Wir wollen und können nicht mehr warten.“ Und nun kommt genau dieser eine Moment. Wir planen die BR-Gründung, die nächsten Schritte und verabreden uns für nächste Woche. Doch der Plan wird durchkreuzt. Der Arbeitgeber hat reagiert und den Kopf der Gruppe, Tamer, auf die Straße gesetzt. Verdeckte Vorarbeit mit den entschlossenen Initiatoren, gewerkschaftliche Stärke durch Mitglieder organisieren, die Kollegen im Betrieb aktiveren – dafür war keine Zeit mehr. Die andere Option wäre gewesen: Tut mir leid Jungs, wir haben uns einen Plan und Ziele gesetzt. Wir sind noch bei Punkt 1. Die BR Gründung ist erst unter Punkt 10.“ Gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft wurde die BR-Gründung offiziell eingeleitet. Uns blieben etwas mehr als 1 Woche Zeit, um die Belegschaft darauf vorzubereiten.

Die Kündigung von Tamer hat die jungen Arbeiter noch mehr zusammengeschweißt. „Wir halten zusammen, jetzt erst recht, wiederholt Christian immer wieder. Die Gruppe hält zusammen. Vorneweg Tamer. Er führt seine Jungs an, spricht ihnen Mut zu, telefoniert mit den Kolleg*innen im Betrieb, informiert sie über ihr Vorhaben und organisiert so die Unterstützung für die BR-Gründungen. In vielen Telefonaten beraten sie mit ihrer Gewerkschaft über all die Dingen, die an dem Tag im Betrieb passierten oder die Kolleg*innen berichteten. Vor dem Tag der Versammlung im Betrieb ruft Tamer an und fragt: Ich bin zwar gekündigt, aber ich muss dabei sein. Die Leute im Lager müssen mich sehen. Das ist wichtig, dann sehen sie, dass sie keine Angst haben müssen.

Am nächsten Tag begreife ich, was er damit meinte. Zusammen betreten wir das 12.000 qm große, hochmodernisierte Lager, in dem 70-80 Beschäftigte arbeiten. Mehrheitlich türkeistämmige Lagerarbeiter. Ich versuche gedanklich die Berichte der jungen Arbeiter mit dem, was ich vor Ort sehe, zu verbinden. Das Lager ist die Achillesferse des Unternehmens. Von hier aus fahren jede Nacht Dutzende LKW´s in die Region raus. Die „Rund-um-Uhr“ Bestellungen der Kunden führt dazu, dass die Lagerarbeiter meist länger arbeiten müssen, als geplant. Mehr als 10 Stunden am Tag sind nicht selten. Unfälle sind zum Glück nicht viel passiert. Aber dafür ist der Lohn niedrig und willkürlich verteilt. Von der Außenwelt unbemerkt, ist genau hier über Monate hinweg der Unmut der Lagerarbeiter gewachsen.

Wir sind im Lager. Ich beobachte, dass Tamer aufgeregt ist. Nein, nicht deswegen, dass der Arbeitgeber ihm ein Hausverbot aussprechen könnte. Er ist es wegen seinen Kollegen. Seine Augen funkeln, als er jeden einzelnen Kollegen im Lager begrüßt. Das gleiche Bild bei den Lagerarbeitern, als sie Tamer im Lager sehen. Ich folge ihm, begrüße mit ihm seine Arbeitskollegen. Ich merke, das sind nicht nur seine Kollegen. Es ist mehr, es ist etwas anderes. Es ist diese große, ehrliche Herzlichkeit, die hier im Lager über Monate und Jahre hinweg gemeinsamen Arbeitens entstanden ist – beim Kommissionieren der Ware, beim Beladen der LKW´s, beim Aushelfen von kurzfristigen Aufträgen, beim Schieben von Überstunden, um das Tagessoll zu erreichen.

Dieser Rückhalt sollte sich dann auch in der Versammlung zeigen. Eine erste Hürde zur Wahl eines Betriebsrats konnte erfolgreich genommen. Alle atmen auf, vorneweg die fünf jungen Lagerarbeiter. Wir können uns auf unsere Jungs verlassen, sagt Sedat erleichtert und ist stolz auf den Zusammenhalt. Und Tamer? Gegen seine Kündigung läuft zwischenzeitlich eine Klage durch die Gewerkschaft. Bevor er ins Auto steigt, ruft er mich noch zu: „Mein Job ist hiermit erledigt, die Jungs gehören nun Euch, der Gewerkschaft.“ (Gencler artik size emanet)

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Erstveröffentlichung in „NeuesLeben/YeniHayat“ vor ein paar Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.
Bild und Bildunterschrift hinzugefügt von der Redaktion AmericanRebel

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Für den Inhalt dieses Artikels ist der Autor bzw. die Autorin verantwortlich.
Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.

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