Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949
Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.
Harry Popow – 28. Oktober 2019
Neue Sichten in der Schublade?
Zehn Tage, die viele Fernsehleute im innersten bewegen. Sie sind Teilnehmer eines Lehrganges für Gesellschaftswissenschaftliche Weiterbildung im März 1988. Tage, die auch Henry nie vergessen wird. Er notiert: Aufregender denn je. Viel Neues, Weiterführendes, nicht, wie bisweilen bisher, Widergekautes. Was mich verblüffte: Der Sicherheitsmensch, ich kenne ihn aus der Parteiorganisation, murrte während einer Pause etwas von „Konterrevolution“. Herrje, wie tief sind wir gesunken, Neues sofort als etwas Feindliches abzutun. Mich aber haben die Vorträge der Wissenschaftler, z.B der Akademie der Wissenschaften der DDR, begeistert: Die Intensivierung als neue grundlegende Existenzbedingung des Kapitals und die notwendige differenzierte Betrachtung der Aggressivität des Militärisch-Industrieellen-Komplexes; eine notwendige neue Sicht auf die bisher dem Revisionismus zugeordneten Begriffe wie „freie Preisbildung“, „Marktforschung“ und „Subventionen“ im Hinblick auf eine höhere Effektivität im Sozialismus, eine gleitende Planung sei nötig und u.a. die Zuordnung des Gewinns zu den Produzenten; für Investitionen, die eigenverantwortlich eingesetzt werden können (Institut für Marxismus-Leninismus); dem Demokratischen Zentralismus ist der nur einseitige Direktivcharakter zu nehmen, mehr Streit bei der Vorbereitung von Beschlüssen, positives Verhalten zum Widerspruch ist nötig, gegen Zensurendurchschnitte, gegen die Allgemeinbildung zu Lasten der Spezialbildung, mehr rechtliche und moralische Freiräume für Initiative (Akademie der Wissenschaften); mehr Rücksicht nehmen auf individuelle Interessen, da die Rolle des Kollektivs abnimmt; neuer Stellenwert der Organisiertheit, alle Formen des Gedankenaustausches nutzen; Arbeit und Kultur als einheitlicher Prozeß (in Japan schon durchgesetzt);
Kultur ist auch, Traditionen hocheffektiver Arbeit in Preußen aufzudecken und nutzbar zu machen (Akademie der Gesellschaftswissenschaften). Am Ende der zehn Tage noch ein Vortrag mit anschließender Fragestellung. Eine Fernsehjournalistin: „Wann lesen wir mal was von diesen neuen Erkenntnissen z. B. in einem ZK-Plenum?“ Der Dozent senkt den Kopf. Dann gibt er sich einen Ruck und gesteht: „Wir sind schon froh, wenn wir mal einen Halbsatz unserer Untersuchungen und Vorschläge in einem Plenum wiederfinden …“
(Im Jahre 2002 liest Henry in dem Buch „Das Geschenk“ von Eberhard Czichon und Heinz Marohn auf den Seiten 84/85: „Nach dem 7. Plenum – auf dem Honecker die Aufgabe stellte, die dialektischen Widersprüche im Sozialismus zu erforschen und bis zum XII. Parteitag eine Konzeption des modernen Sozialismus auszuarbeiten – hatten sich Gruppen von Wissenschaftlern dieser Aufgabe gestellt. Aber alles war im Sande verlaufen. Ergebnisse der Forschungen blieben der Öffentlichkeit unbekannt. Man verfiel in den alten Trott der Erfolgsberichterstattung. (…)“
Nun will es Henry mitunter – so er Zeit hat – genauer wissen. Welche Aussagen und Fakten zu welchen Problemen treffen die einzelnen Plenen der Partei? Welche Kontinuität zeigt sich? Was er beim Lesen und Vergleichen entdeckt, erschreckt ihn. Mal gibt es Aussagen in Prozent, beim nächsten Plenum wieder in absoluten Zahlen oder zu ganz anderen Problemen. Man erhält kein genaues Bild von der Entwicklung auf einem bestimmten Gebiet. Die Leser und Parteileute werden für dumm verkauft, überzogene Geheimniskrämerei, keine Dialektik. Friß oder stirb. Andere, mit denen er darüber spricht, zucken nur mit den Schultern. Sie wollen eigentlich darüber nicht nachdenken. „Wir kauen nur Fakten wider in Seminaren, ohne Entwicklungstendenzen ablesen zu können, das ist nicht nur schade …“, denkt Henry. Kann man was tun? Aber wer will sich schon als ein Don Quichotte aufspielen?
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Zum Inhalt
Ausgangssituation ist Schweden und in Erinnerung das Haus in Berlin Schöneberg, in dem die Ziebells 1945 noch wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!
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Empfehlung Info-Welt:
Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
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