Was ist Demokratie? Eine Reflexion im Vorfeld des 50. Jahrestags von Portugals Nelkenrevolution

Wandgemälde Gedenken an "Grândola, Vila morena", eine Volksballade über die Stadt. Die Bedeutung des Liedes ist, dass es die Hymne der "Nelkenrevolution" vom 25. April wurde, in der der Diktator Antonio Salazar gestürzt wurde. Während seines Regimes wurde das Lied verboten, da es die Kameradschaft und das sozialistische Gewissen der hart arbeitenden Armen des landwirtschaftlichen Südens feierte. Das Denkmal feiert die Worte von Zéca Afonso und die eindringliche Musik, die es gespielt hat. Grândola contendo a pauta de Grândola Vila Morena Bild: YouTube

Volkskorrespondent Rui Filipe Gutschmidt Redaktion – 21. September 2023

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Rui Filipe Gutschmidt

Demokratische Werte… Immer wieder in aller Munde, doch kaum einer weiß, was das eigentlich bedeutet. Sicher, Demos = das Volk und Kratos = Herrschaft, also Volksherrschaft. Aber hier beginnt auch schon die Interpretationsfrage. Wer ist mit „Volk“ gemeint, wie wird die „Herrschaft“ ausgeübt, wer repräsentiert das Volk und über wen soll es herrschen, wenn sie selbst die Herrscher sind? Der Teufel steckt im Detail und die Macht bleibt trotz Aufständen und Revolutionen letztlich doch bei denen, die das Geld haben. Zum 25. April, Tag der Nelkenrevolution in Portugal, habe ich über das Thema „Demokratie“ und Sozialismus reflektiert und im Anschluss viele Gespräche geführt.

Seit der Antike hat der denkende Mensch die ungerechte Verteilung von Macht und Besitz in Frage gestellt. In Portugal wird, am 25. April 2024, der 50. Jahrestag der Nelkenrevolution gefeiert. 1974 wurde an diesem Tag der faschistisch-imperialistischen Diktatur ein Ende gesetzt. Die blutigen Kriege in den nach Unabhängigkeit und Freiheit strebenden afrikanischen Kolonien Portugals waren der unmittelbare Zünder, der linksorientierte Militärs der mittleren Offiziersgrade (Capitães de Abril – Hauptmänner des April) dazu brachte, in einem Militärputsch die Regierung zu stürzen, um eine Demokratisierung des Landes zu bewirken und um dem blutigen Kolonialkrieg ein Ende zu setzen.

Es gelang ihnen mit Hilfe der herbei strebenden Volksmassen die Regierung des „Estado Novo“ unter Antonio Salazars Nachfolger, Marcelo Caetano, zu stürzen und somit die faschistische Diktatur und den Krieg zu beenden. Die Kolonien in Afrika wurden in einem schwierigen Prozess in die Unabhängigkeit entlassen und Portugal selbst erfuhr eine Übergangsphase unter Aufsicht der Militärs (MFA). Denn der „Tag der Freiheit“ brachte etwas ganz neues für die Portugiesen: Die „Demokratie“! In diesem Fall war erst einmal eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild geplant.

Dazu brauchte es natürlich Parteien, die jetzt wie Pilze auf feuchtem Waldboden aus der Erde schossen. In einem Land, in dem etwa 33 Prozent der Frauen und 20 Prozent der Männer nie Lesen und Schreiben gelernt haben und in dem die große Mehrheit nicht über die vierte Klasse hinaus kam, war es leicht die Massen zu manipulieren. Der Mangel an Bildung wurde vor allem von der katholischen Kirche genutzt, um alle demokratischen Reformen als „Teufelszeug“ oder als „kommunistische Verschwörung“ anzuprangern. Die Bischöfe waren eine der Stützen des Estado Novo und die Einführung des Laizismus mit einer zivilen Bildungs- und Familienpolitik, stieß auf bitteren Widerstand in kirchlich-konservativen Kreisen.

Nelkenrevolution 1974 – Triumph der Demokratie oder verpasste Chance?

In ganz Portugal feiert das Volk den Sieg der Demokratie gegen die Diktatur… Aber Moment mal. „Das Volk“? Natürlich nicht alle. Es gibt natürlich Leute, dessen Familienclans vom faschistischen Regime profitiert haben oder die ihren Reichtum auf dem Rücken von Sklaven oder in der Praxis rechtloser Arbeiter angehäuft haben und die ihre Macht durch Agrarreform und sozialer Gesetzgebung plötzlich verloren. Viele Großgrundbesitzer verließen Portugal und schon seit Ausbruch der Kampfhandlungen in den 1960ern, die Kolonien in Afrika, wegen der Furcht einer Machtübernahme der Kommunisten. Die Mitglieder der PCP wurden als „Diener des Antichristen“ von der Geheimpolizei PIDE besonders stark verfolgt. Folter und politische Morde, wie in jeder Diktatur, waren vor der Revolution an der Tagesordnung und jetzt hatten viele Angst vor Racheakten, wenn die kommunistische Partei an die Macht kommen sollte.

Doch, zumindest in Portugal, war diese Angst unbegründet. In Afrikas Kriegsgebieten wurden allerdings viele Massaker begangen und eine beinahe unendliche Spirale der Gewalt wurde von allen Seiten begangen. Die Grausamkeiten waren gleichzeitig ein Propagandawerkzeug, dass die Folterknechte und Ausbeuter in Panik versetzte. Sie nahmen ihr blutbeflecktes Geld und kauften sich noch größere Ländereien in Südafrika, Brasilien oder Venezuela, wo sie gerade so weiter machen konnten wie zuvor.

Doch das ganze Geheul war unnötig, da die revolutionären Kräfte mit verstreichen der Monate immer mehr aufgeweicht wurden und die linken Ideale allmählich verloren gingen. Doch nicht bevor wichtige Reformen umgesetzt wurden, wie die Gründung von Gewerkschaften und ländlicher Kooperativen, die den Arbeitern, Kleinbauern und Angestellten im öffentlichen Dienst längst überfällige Rechte und Konditionen gab. Die Macht im Land wurde gerechter verteilt und man kämpfte jetzt mit legalen Mitteln um eine, wenn auch nicht sozialistische, so zumindest eine sozial gerechtere Gesellschaft zu etablieren.

Heute sind wir aber noch weit weg von den „Idealen des April“. Im Gegenteil zu der Aufbruchstimmung der 70er Jahre, ist eine Demokratiemüdigkeit zu spüren. Die Enttäuschung über die „verpasste Chance“ einer gerechten, solidarischen und freien Demokratie ist groß, vor allem bei den Linken, da die konservativen und die neoliberalen immer wieder Gründe erfinden, die es ihnen ermöglicht bereits erkämpfte Rechte der Arbeiter und des „Zé Povinho“ (des einfachen Volkes) rückgängig zu machen. Selbst die einst versteckten Faschisten haben sich wieder geoutet und wurden mit ihren Verschwörungstheorien und Hassparolen sogar ins portugiesische Parlament gewählt. Aber auch das ist Demokratie. Bleibt eine Frage offen, die sich kaum einer zu fragen traut:

Ist Demokratie eine gute Regierungsform?

Die Frage lässt sich nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Im Prinzip, ja. Aber in einer Gesellschaft, in der keine Chancengleichheit existiert und in der die Macht vom Kapital ausgeübt wird, ist die „Herrschaft des Volkes“ eine Farce. In den Parlamenten der Demokratien nach westlichem Vorbild sitzen Großunternehmer oder deren Anwälte, Diplomökonomen und Banker und inzwischen auch immer mehr Medienmogule und deren Stellvertreter. Auf der linken Seite finden sich ein paar Lehrer, Künstler, Intellektuelle, Gewerkschafter und Aktivisten, die aber leider in der Minderheit sind, da Pseudosozialisten an ihrer statt gewählt werden, da sie sich als „moderat“ ausgeben und die Kandidaten, die sich wirklich für die Probleme einer ungleichen und ungerechten Gesellschaft interessieren als „radikale Revolutionäre“ hinstellen. Die Mainstreammedien unterstützen die Vertreter des Kapitals hierbei nach allen Regeln der Kunst.

Trotzdem muss man sich die Abstufungen bewusst machen, die vom Nationalsozialismus im 3. Reich, über die verschiedenen Formen des Faschismus, den „Gottesstaaten verschiedener Religionen, dem Raubtierkapitalismus, Neoliberalismus und Scheindemokratien der Oligarchen bis hin zur Sozialdemokratie und der sozial gerechten Utopie eines progressiven Sozialismus reichen. Kommunismus wie von Marx, Engels oder Hegel idealisiert, sieht die „Diktatur des Proletariats“ als oberstes Ziel, das sich nur im Klassenkampf erreichen lässt. Persönlich bin der Meinung, dass die vor über 150 Jahren verfassten Thesen von der bewaffneten Revolution, damals unausweichlich, heute nicht mehr wirksam sein können.

Was können wir tun?

Wir haben die Möglichkeit durch freie Wahlen und mit der Freiheit der Gründung von Parteien, aktiv am politischen Geschehen in den Staaten der Europäischen Union teilzunehmen. Obwohl die Regeln unserer verschiedenen Formen der repräsentativen Demokratie in der Praxis von einem liberalen Großbürgertum (Bourgeoisie) geschrieben wurden, haben wir in der Theorie das Recht auf politische Mitbestimmung. Daher ist es im Bereich des Möglichen, das bestehende System der Ausbeutung und den damit verbundenen Muff des alteingesessenen Geldadels zu brechen ohne dabei auf Gewalt zurückgreifen zu müssen.

Die Frage ist nur, ob sich die Machtelite des Kapitals die Butter vom Brot (bzw. den Kaviar vom Ei) nehmen lässt. Als Syriza in Griechenland an Macht kam und der Troika als Repräsentant des Grosskapitals die Stirn bot, drehten die Banker dem griechischen Proletariat und allen anderen nicht-privilegierten Hellenen, kurzerhand den Geldhahn zu. Mit diesen Mafiamethoden wurden die sozialistischen Ideale der griechischen Eurorebellen unterdrückt und das Euroimperium in den Glaspalästen Frankfurts am Main demonstrierte seine Macht. Dabei ist dies nur eines von vielen Beispielen, wie das Kapital seine Macht demonstriert und dabei die Hoffnung auf eine sozial gerechte Gesellschaft begräbt.

Sanktionen und wirtschaftliche Isolation von linken Regierungen verhindern die Errichtung einer Gesellschaft die einen Wohlstand für alle bietet. In sozialistischen Staaten wie Kuba oder Venezuela sind die Menschen zu einem Leben in Armut verdammt, da die Sanktionen der USA und einem großen Teil der Industrieländer, eine Entwicklung der Wirtschaft dieser „Rebellen“ mit allen Mitteln verhindern. Das Argument, dass Kuba und Venezuela nicht „demokratisch“ seien, ist angesichts der guten (Wirtschafts-) Beziehungen zu totalitären Staaten wie Saudi-Arabien oder unzählige afrikanischen und asiatischen Ländern, einfach nur lächerlich. Die USA ist selbst eine veraltete, von endemischer Korruption und seit langem von Lobbyisten dominierte „Demokratie“. Was natürlich, wie anfangs erwähnt, eine Interpretationsfrage ist.

Wenn man also den aktuellen Zustand der Demokratie im kapitalistisch geprägten Westen in Betracht zieht, dann kommt man zu dem Schluss, dass uns nur die Illusion einer Mitbestimmung an den politischen Entscheidungen vorgegaukelt wird. Obwohl es den EU-Bürgern hier und da gelingt Gesetze zu stoppen von der nur eine Minderheit profitieren würde und mit Hilfe linker Parteien und Bündnisse auch ab und zu mal Gesetze für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter und der ärmeren Bevölkerungsschichten durchzusetzen, sind wir noch weit von einer wirklich demokratischen Gesellschaft entfernt. Denn es gibt keine echte Demokratie, ohne Brot, Frieden, Wohnraum und Bildung, Gesundheit und Fürsorge, Meinungs- und Pressefreiheit. Eine Demokratie, die die Menschenrechte nicht zu 100 Prozent achtet, ist keine Demokratie.

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